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    BGH: Gerichte sollen sich nicht überschätzen - Bestätigungsvermerk eines Abschlussprüfers entlastet oft nicht

    Der BGH hat jüngst in Zusammenhang mit Ersatzansprüchen von Kapitalanlegern zwei wichtige Aspekte bekräftigt: Gerichte dürfen sich bei der bilanziellen Bewertung von Forderungen nicht überschätzen, sondern müssen grundsätzlich einen Sachverständigen befragen. Auch ein uneingeschränkter Bestätigungsvermerk schützt die für die Ausgabe der Kapitalanlage Verantwortlichen häufig nicht vor persönlicher Haftung. Beide Grundsätze haben Bedeutung weit über das Kapitalanlagerecht hinaus.

    Im Urteil des für Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einer Kapitalanlage zuständigen 3. Zivilsenats (09.02.2023, Aktenzeichen III ZR 117/20) ging es um eine Schadensersatzklage einer Anlegerin gegen eine insolvente AG; die kürzt der BGH ab mit „WGF“, offenbar die insolvente Westfälische Grundbesitz und Finanzverwaltung AG mit Sitz in Düsseldorf. Der Sachverhalt ist reichlich komplex. Vereinfacht ging es um Folgendes: Geschäftsmodell der WGF war, Immobilien günstig zu erwerben, aufzuwerten und anschließend gewinnbringend zu veräußern – an Fondsgesellschaften, die einer ihrer Tochtergesellschaften gehörten, der deboka Deutsche Grund und Boden Kapital AG. Aufgrund dieser Geschäfte wies die WGF in ihren Bilanzen erhebliche Überschüsse aus. Der Abschlussprüfer testierte diese uneingeschränkt. In der Folgezeit konnten Fonds­gesellschaften die ihnen bislang gestundeten und nun fällig gewordenen Kaufpreise nicht bezahlen. WGF trat von den Kaufverträgen zurück. Statt Überschüssen in den Bilanzen wies sie nun Verluste aus. WGF finanzierte ihr Geschäft durch Hypothekenanleihen, die sie öffentlich emittierte. In den Verkaufsprospekten druckte sie die ursprünglichen, die Überschüsse ausweisenden Abschlüsse ab. Diverse dieser Anleihen (der BGH benennt sie mit A0LDUL, WGFH04 bis 08) konnte die WGF bei Fälligkeit nicht zurückzahlen. Die Klägerin hatte einzelne der maroden Anleihen gezeichnet. Die Beklagten waren Vorstandsmitglieder der WGF zur Zeit der Begebung der Anleihen. Die Klägerin verklagte sie auf Ersatz ihres Schadens. Sie trug u.a. vor, sie habe die Anlagen lediglich aufgrund des ursprünglichen, des den Überschuss ausweisenden Jahresabschlusses erworben.

    Land- und Oberlandesgericht Düsseldorf hatten die Klage im Wesentlichen abgewiesen. Das hielt der Kontrolle des BGH nicht stand. Rechtsgrundlage der geltend gemachten Ansprüche waren deliktische Ansprüche wegen Kapitalanlagebetrugs und sogenannter sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung (§ 826, 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 2 Nr. 1 StGB). Solche Ansprüche setzen u.a. voraus, dass Prospektverantwortliche (im BGH-Fall die beklagten Vorstandsmitglieder) Anlageinteressenten durch fehlerhafte oder unvollständige Anlageprospekte zum Abschluss eines Vertrages veranlassen, den sie sonst nicht geschlossen hätten; dabei genügt typischerweise nicht, dass der Prospekt objektiv unrichtig ist; nach dem BGH muss das schädigende Verhalten „nach den Maßstäben der allgemeinen Geschäftsmoral und des als ‚anständig‘ Geltenden verwerflich“ sein. Der BGH nennt als Beispiel, dass der Vorstand einen (grob) fehlerhaften Jahresabschluss oder Zwischen­abschluss aufstellt und veröffentlicht.

    Vor diesem Hintergrund war entscheidende Vorfrage der Haftung: Durfte WGF die Forderungen gegen ihre Fondsgesellschaften wie geschehen mit dem Betrag der vereinbarten Kaufpreise aktivieren? Das war zweifelhaft. Denn die Klägerin hatte vorgetragen, die Forderungen gegen die mittellosen Fonds seien erkennbar nicht werthaltig gewesen und die WGF habe die Immobilien zu „Mondpreisen" verkauft. Wäre das richtig, hätte die WGF die Forderungen zu deutlich niedrigeren Werten als den Kaufpreisen aktivieren müssen. Die Bilanzen wären falsch gewesen. Denn risikobehaftete bzw. zweifelhafte Forderungen sind in der Bilanz (ggf. teilweise) abzuschreiben und mit ihrem wahrscheinlichen Wert anzusetzen. Der ist aufgrund objektiver Umstände nach kaufmännischem Ermessen zu schätzen. Dabei kommt es auf den konkreten Einzelfall an; Fähigkeit und Willigkeit des Schuldners zu zahlen sind maßgebende Umstände. Hierfür ist nach dem BGH kaufmännischer und bilanz­technischer Sachverstand erforderlich; dafür sei regelmäßig die Einbeziehung eines Sach­verständigen nötig, nur in selteneren Fällen genüge der besonders nachzuweisende Sachverstand des Gerichts. Da der BGH den beim OLG Düsseldorf nicht sah, verwies es die Sache zurück zur Beweisaufnahme.

    Für die Praxis bedeutet die Entscheidung zwar ein erhöhtes Kostenrisiko der beweisbelasteten Partei, regelmäßig den Kläger. Denn ein gerichtliches Sachverständigengutachten ist meist kostenintensiv. Für die Prozessanwälte hat die Entscheidung die Konsequenz, dass sie sorgfältig zu Bilanzpositionen vortragen müssen – notfalls mittels eines Parteigutachtens, um hinreichend die Unrichtigkeit der Positionen darzustellen und das Gericht zu überzeugen, dass es in die Beweisaufnahme gehen muss. Unterlässt das Gericht die sachverständige Begutachtung, kann man wie im Düsseldorfer Fall die Verletzung rechtlichen Gehörs rügen.

    Ein anderer Aspekt des Urteils ist für die Praxis wichtig: Die beklagten Vorstandsmitglieder beriefen sich im Prozess darauf, der Abschlussprüfer habe die Jahresabschlüsse uneingeschränkt testiert. Sie meinten, das schlösse ihren Vorsatz und damit ihre Haftung aus. Denn infolge des Testats hätten sie sich in einem sogenannten Tatbestandsirrtum befunden. Sie hätten sich auf das Testat verlassen können. Dem stimmt der BGH zwar in der Theorie zu. Gehe es um Unrichtigkeiten und Rechtsverstöße, die sich auf die Darstellung des Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage einer Kapitalgesellschaft wesentlich auswirkten, könne im Grundsatz die Erteilung eines uneingeschränkten Bestätigungsvermerks durch einen Abschlussprüfer den Vorsatz ausschließen – sehe man von Ausnahmefällen ab, etwa wenn dem Jahresabschluss die Unrichtigkeit auf der Stirn geschrieben stehe. Das gelte aber nur für das redliche Vorstandsmitglied; das müsse dem Abschlussprüfer selbst oder durch Dritte alle Aufklärungen und Nachweise gegeben haben, die für eine sorgfältige Abschlussprüfung notwendig seien. Dass diese Voraussetzung erfüllt ist, müssten die Vorstandsmitglieder im Prozess belegen. Auch das hatte das Oberlandesgericht noch anders gesehen; es meinte, die Klägerin müsse hierzu vortragen.

    Insgesamt ist die Entscheidung des BGH begrüßenswert. Sie überzeugt in ihren beiden Teilen: Sie zeigt Gerichten mit Recht die Grenzen in Fachfragen auf, die bilanziellen und kauf­männischen Sachverstand erfordern. Und sie schiebt Versuchen von Instanzgerichten einen Riegel vor, von Klägern Vortrag zu fordern, zu dem sie aus eigener Kenntnis gar nichts sagen können – wie etwa hier eine Kapitalanlegerin zu den rein internen Vorgängen zwischen Abschlussprüfer und geprüfter Gesellschaft.

    Dr. Thomas Heidel / Melissa Sinik

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 4/23

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