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    BGH: Keine faktische Satzungsänderung und offenbar Zweifel an Zulässigkeit von sog. „Satzungsdurchbrechungen“ bei Kapitalgesellschaften

    Der BGH hat jüngst einen Grundsatz bekräftigt, der eine Selbstverständlichkeit ist: Die Organe einer Kapitalgesellschaft (insb. GmbH und AG) können deren Satzung nicht wirksam „faktisch“ ändern. Zumal Hauptversammlungsbeschlüsse einer Aktiengesellschaft, die gegen die Satzung verstoßen, sind rechtswidrig und aufgrund einer Anfechtungsklage für nichtig zu erklären – auch wenn sich die rechtswidrige Praxis jahrelang eingeschliffen hat. Zweifel lässt der BGH erkennen an der weithin für zulässig gehaltenen Rechtsfigur einer Satzungsdurchbrechung.

    Geklagt hatten Aktionäre einer nicht börsennotierten Aktiengesellschaft. Deren Satzung schrieb die Prüfung des vom Vorstand aufgestellten Jahresabschlusses vor. Gegen diese Pflicht war jahrelang verstoßen worden. Der Aufsichtsrat hatte die Jahresabschlüsse ohne eine solche Prüfung festgestellt. Dagegen geklagt hatte niemand. 2019 entschied man sich, die Abschlüsse 2017 und 2018 nachträglich prüfen zu lassen. Der Aufsichtsrat stellte auf der Grundlage der Prüfung diese Abschlüsse fest. Die Hauptversammlung beschloss eine Satzungsänderung, wonach künftig der Vorstand nach seinem Ermessen die Prüfung veranlassen darf. Dieser Beschluss war nicht Gegenstand des BGH-Verfahrens, sondern ein weiterer HV-Beschluss für die Jahre vor 2017. Den fasste die HV mit satzungsändernder Mehrheit. Darin hieß es: „Soweit nach … der Satzung … eine Prüfung von Jahresabschlüssen … verpflichtend vorgeschrieben ist, wird auf eine Prüfung … für bereits abgeschlossene Geschäftsjahre verzichtet“, soweit keine gesetzliche Prüfpflicht bestehe – die es nicht gab. Landgericht Hannover und Oberlandesgericht Celle wiesen die gegen diesen HV-Beschluss gerichteten Klagen zurück; die Gerichte meinten, der Beschlussinhalt erschöpfe sich in der Entscheidung, wie nachträglich mit dem Jahre zurückliegenden Satzungsverstoß durch die Verwaltung umzugehen sei, die Entscheidung hierüber könne keine Anfechtung des HV-Beschusses begründen. Der BGH sah das deutlich anders, in seinem (Versäumnis-) Urteil vom 11.7.2023 - II ZR 98/21; angesichts der Klarheit der Ausführungen des BGH gab es dagegen keinen Einspruch.

    Der HV-Beschluss verstößt nach Auffassung des BGH eindeutig inhaltlich gegen die Satzung. Daran ändere sich nichts dadurch, dass der Vorstand eine satzungswidrige Praxis etabliert hatte, indem er den Abschluss entgegen der Satzung nicht dem Abschlussprüfer vorgelegt hatte. Nur darauf stellt der BGH ab; er erwähnt nicht den auf der Hand liegenden Verstoß des Aufsichtsrats, die rechtswidrig ungeprüft gebliebenen Abschlüsse festzustellen. Mit Recht unterstreicht der BGH, das satzungswidrige Verhalten des Vorstands (und, wie zu ergänzen ist, des Aufsichtsrats) bleibe ohne Auswirkung auf Verbindlichkeit und Inhalt der Satzung. „Die Satzung kann nicht faktisch geändert werden“, schreibt der BGH in aller Deutlichkeit. Anders ist das bei Personengesellschaften, GbR, OHG und KG, da kann unter Umständen eine unbeanstandete langjährige „Übung“ eine konkludente Änderung des Gesellschaftsvertrags bewirken. Dass die für die Zukunft beschlossene Änderung der Satzung der AG zum Ermessen des Vorstands bei der Vorlage des Abschlusses an einen Prüfer nicht auf die Vergangenheit ausstrahlen kann, erwähnt der BGH en passant zutreffend.

    Der BGH hätte an dieser Stelle Schluss machen können. Die Entscheidungen der niedersächsischen Gerichte waren aufgrund der Revision aufzuheben. Denn der HV-Beschluss war klar rechtswidrig. Er verstieß gegen die Satzung. HV-Beschlüsse sind nicht nur rechtswidrig, wenn sie gegen das Gesetz verstoßen. Auch Satzungsverstöße führen zur Rechtswidrigkeit. Ist der HV-Beschluss Gegenstand einer Anfechtungsklage, hat das Gericht ihn für nichtig zu erklären (jedenfalls wenn der Satzungsinhalt materieller, „körperschaftsrechtlicher“ Art ist wie bei der Anordnung der Prüfpflicht für Abschlüsse unabhängig von den gesetzlichen Vorgaben). Doch der BGH bleibt dabei nicht stehen. Er fügt seiner Entscheidung gewissermaßen ohne Not eine interessante Fußnote hinzu, die auf eine künftige Änderung seiner Rechtsprechung hindeuten könnte: Der BGH macht deutlich, der von der HV beschlossene Verzicht auf die Abschlussprüfungen für die Jahre vor 2017 sei auch nicht akzeptabel unter dem Gesichtspunkt einer bloßen sog. Satzungsdurchbrechung. Teile der Literatur und älterer Rechtsprechung wollen Durchbrechungen der Satzung ohne Einhaltung der für eine Satzungsänderung nötigen formellen Voraussetzungen hinnehmen, wenn sich der HV-Beschluss auf eine punktuelle Regelung beschränkt, bei der sich die Wirkung des Beschlusses in der betreffenden Maßnahme erschöpft (demgegenüber sind sog. zustandsbegründende Satzungsdurchbrechungen nichtig, bei denen die Abweichung von der Satzung Dauerwirkung entfaltet). Dazu sagt der BGH nun unter Nachweis von Literaturstimmen zur Kritik an der Rechtsfigur der angeblichen Zulässigkeit der Satzungsdurchbrechung: In Frage gestellt würden sowohl das Bedürfnis für diese Rechtsfigur als dritter Kategorie neben (rechtswidrigem) Satzungsverstoß und (rechtmäßiger) Satzungsänderung sowie für die Unterscheidung zwischen punktueller und zustandsbegründender Durchbrechung; das gelte insb. für das Aktienrecht. Einer „näheren Auseinandersetzung“ mit dieser Frage bedürfte es angesichts der zulässig erhobenen Anfechtungsklage allerdings nicht, meint der BGH – er befasst sich damit leider gar nicht. Doch scheint schon die durch den Fall nicht gebotene Erwähnung der Tastsache, dass in der Literatur die Rechtsfigur der Satzungsdurchbrechung „in Frage gestellt“ wird, ein allzu berechtigter deutlicher Fingerzeig des BGH für auch seine Zweifel an der Rechtsfigur der Zulässigkeit von Satzungsdurchbrechungen.

    Dr. Thomas Heidel

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 7/23

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