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    LG München erklärt Jahresabschlüsse der Wirecard AG für 2017 und 2018 für nichtig

    Der Bilanzbetrug um den einst gefeierten Zahlungsdienstleister Wirecard wirbelte 2020 nicht nur die Finanzbranche, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit auf. Das ehemalige Vorzeigeunternehmen, das im September 2018 in den DAX aufgenommen worden war, hatte jahrelang ein Auslandsgeschäft mit Partnerunternehmen fingiert und die hieraus resultierenden hohe Gewinne auf Treuhandkonten zunächst in Singapur und ab 2019 in den Philippen verbucht. Tatsächlich wirtschaftete die Wirecard AG aber defizitär. Deshalb hat das Landgericht München deren Jahresabschlüsse für 2017 und 2018 für nichtig erklärt (Az.: 5 HK O 15710/20).

    Nachdem schon in den Jahren 2019 und 2020 in der Finanzpresse Gerüchte über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard im Umlauf waren, rückte der Skandal erstmals in den Fokus der breiteren Öffentlichkeit, als das Unternehmen Mitte Juli 2020 in einer Pressemitteilung bekannt gab, dass man die Veröffentlichung des Jahresabschlusses erneut verschieben müsse. Zuvor hatte der Abschlussprüfer von Wirecard (EY) erklärt, dass es keine Nachweise über die Existenz von Treuhandkonten im Umfang von rund € 1,9 Milliarden € gebe. Später gab die Zentralbank der Philippinen bekannt, dass die Treuhandkonten nicht existierten. Wirecard meldete in der Folge Insolvenz an.

    Der Fall hatte nicht nur Auswirkungen auf Wirecard selbst, sondern wirft seinen Schatten auch auf EY wie auch die Bundesaufsicht für Finanzdienstleistungen (BaFin). Insbesondere war die BaFin als verantwortliche Aufsichtsbehörde nach ersten Hinweisen auf die Unregelmäßigkeiten bei Wirecard nicht selbst tätig geworden, sondern ging stattdessen gegen die kritischen Journalisten vor. Gleichwohl wurden Klagen geprellter Anleger gegen die BaFin abgewiesen (siehe unseren Newsletter 1/2022)

    Die rechtliche Aufarbeitung dieses größten Finanzskandals der deutschen Nachkriegsgeschichte wird angesichts des Umfangs und der Komplexität des Sachverhalts die deutsche Justiz noch lange beschäftigen. Beim Bayerischen Obersten Landesgericht (BayObLG) ist die Eröffnung eines Massenverfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG), in dem Tausende von Anlegern Schadensersatz von EY und dem ehemaligen Wirecard-Vorstand Braun einfordern, zu erwarten.

    Unabhängig davon hat das LG München die Jahresabschlüsse von Wirecard für die Jahre 2017 und 2018 sowie die darauf gestützten Gewinnverwendungsbeschlüsse auf Klage des Insolvenzverwalters Michael Jaffé mit Urteil vom 05.05.2022 für nichtig erklärt (Az.: 5 HK O 15710/20).

    Die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse, so das LG, ergebe sich aus § 256 Aktiengesetz (AktG). Hierbei trat das Gericht nicht einmal in die Beweisaufnahme über die Existenz der Treuhandkonten ein. Denn sowohl nach dem Vortrag des Klägers wie auch dem der Beklagten sei der Jahresabschluss nichtig.

    Wenn, wie der klagende Insolvenzverwalter geltend macht, die Treuhandkonten nicht existierten, sei die Feststellung des Jahresabschlusses nach § 256 Abs. 5 Nr.1 AktG nichtig. Ein Posten sei erheblich überbewertet, wenn die Bewertung nicht gemäß den Vorschriften der §§ 253-255 Handelsgesetzbuch (HGB) vorgenommen werde. Dafür, dass die Treuhandkonten nicht oder in einem nennenswerten Umfang existierten, spreche, dass die Erklärung der Bank in Singapur, bei der Treuhandkonten bestehen sollten, nicht einmal ansatzweise mit der Bestätigung des Treuhänders übereinstimmte. Für die Richtigkeit der Erklärung der Bank streite, dass diese aufgrund einer gerichtlichen Anordnung des High Court of Singapur abgegeben wurde. Ferner sei die Bank international tätig und würde durch Falschangaben einen erheblichen Reputationsverlust erleiden.

    Der Jahresabschluss sei auch dann nach § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG nichtig, wenn die Gelder auf den Treuhandkonten in der Zeit zwischen der Bestätigung des Treuhänders und der Feststellung des Jahresabschlusses veruntreut worden seien. Auch in diesem Fall seien Posten in der Bilanz erheblich überbewertet.

    Selbst wenn man den Vortrag des ehemaligen Wirecard-Vorstandvorsitzenden Braun, der dem Prozess auf Seiten von Wirecard beigetreten ist, zugrunde lege und annehme, dass die Guthaben zwar existierten, aber auf anderen Konten gebucht seien, sei der Jahresabschluss nichtig. Dies ergebe sich aus § 256 Abs. 1 S. 1 AktG, weil bei der Erstellung des Jahresabschlusses gläubigerschützende Vorschriften verletzt worden seien. Zu den gläubigerschützenden Vorschriften gehörten die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung nach §§ 238 Abs. 1 S. 1 und 264 Abs. 2 S. 1 HGB. Diese hätten Gesetzesqualität und dienten dem Gläubigerschutz. Zu den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung gehöre, dass ein sachverständiger Dritter sich in angemessener Zeit einen Überblick über die Geschäftsvorfälle und die Lage des Unternehmens machen könne. Die Aufzeichnungen müssten vollständig, klar und zeitgerecht sein und aus dem Grundsatz der System- und Ergebnisdokumentation ableitbar sein. Der Umstand, dass der Insolvenzverwalter die Guthaben nicht habe finden können, wenn sie existierten, lege einen Vorstoß nahe. § 256 Abs. 1 S. 1 AktG werde auch nicht durch § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG im Wege der Spezialität verdrängt. Selbst wenn man § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG als Spezialfall von Abs. 1 S. 1 ansehe, was umstritten sei, gelte die Spezialität nur bei gleicher Stoßrichtung beider Vorschriften. Unterstellt die Guthaben existierten, seien aber anders verbucht, stehe ein von § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG zu unterscheidender Verstoß im Raum, sodass sich die Frage der Spezialität nicht stelle.

    Die Erheblichkeit der Überbewertung bzw. der Verletzung gläubigerschützender Vorschriften ergebe sich daraus, dass die angeblichen Treuhandguthaben 39 (2017) bzw. 41 (2018) % der Bilanzsumme ausmachten.

    Das LG erklärte mit den festgestellten Jahresabschlüssen zugleich auch die Gewinnverwendungsbeschlüsse nach § 253 Abs. 1 AktG für nichtig, weil sie auf den nichtigen Jahresabschlüssen beruhten.

    Das Urteil des LG München I war von der Praxis lange erwartet worden. Nunmehr kann der Insolvenzverwalter gezahlte Körperschafts- und Gewerbesteuern vom Fiskus erstattet verlangen, was der Insolvenzmasse und den Gesellschaftsgläubigern zugutekommen dürfte. Auch können gezahlte Dividenden zurückgefordert werden. Wirecard hatte 2017 rund 22 Mio. € und 2018 rund 25 Mio. € an Dividenden ausgeschüttet. Die meisten Kleinanleger dürften vor einer Rückzahlung indes über die Einschränkung des § 62 Abs. 1 S. 2 AktG geschützt sein, denn sie waren nicht in die internen Vorgänge von Wirecard eingeweiht und ihnen kann kein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden. Der Insolvenzverwalter konzentriert sein Vorgehen vor allem auf den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Braun, der über eine Beteiligungsgesellschaft selbst Großaktionär von Wirecard war, wie er in einer Pressemitteilung bekannt gab.

    Die Nichtigerklärung der Jahresabschlüsse stärkt zudem die Chancen des Insolvenzverwalters, EY als Abschlussprüfer in die Haftung zu nehmen. Hier bahnt sich damit ein neuer Rechtsstreit an.

    Dr. Gerd Krämer / wiss. Mitarbeiter Faris Schäfer

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 1/23

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