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    Wann ist der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert?

    Für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist eine ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und damit wichtigste Beweismittel. Verstöße gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V (Sozialgesetzbuch, Buch 5), die auf medizinischen Erkenntnissen zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beruhen, können geeignet sein, diesen Beweiswert zu erschüttern.

    Dem Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 28.06.2023 – 5 AZR 335/22 /23, lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Arbeitnehmer hat nach Erhalt einer Kündigung zwei Tage gearbeitet und war anschließend über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus krankgeschrieben. Die Beklagte verweigerte sowohl die Entgeltzahlung als auch die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert, weil sie nicht den Vorgaben der „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V entspreche.

    Das Bundesarbeitsgericht bestätigte die Vorinstanzen und führte aus, die Beklagte habe keine Umstände vorgetragen, die den Beweiswert der streitgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttern könnten. Ein Arbeitnehmer hat im Arbeitsverhältnis Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne dass ihn ein Verschulden trifft. Die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen der Entgeltfortzahlung trägt nach allgemeinen Grundsätzen der Arbeitnehmer. Der Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit erfolgt in der Regel durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Aufgrund der normativen Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes kommt der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann in der Regel den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.

    Ein „einfaches Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber reiche daher nicht aus, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit durch eine ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers mit der Folge begründen, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Dies kann je nach den Umständen des Einzelfalls auch durch Verstöße des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie erfolgen. Formale Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, die in erster Linie kassenrechtliche Bedeutung haben und das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen, wie Vordrucke und Hinweise für die Abrechnung, sind dabei grundsätzlich unbeachtlich.

    Anders zu beurteilen sind dagegen die Regelungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellung der Arbeitsunfähigkeit beziehen. Solche Regelungen enthalten eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungssätze und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Sie geben den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse wieder. So verstanden können Verstöße gegen sie nach der Lebenserfahrung und der Sachkunde des Normgebers der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie geeignet sein, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Rahmen der nach § 286 ZPO vorzunehmenden Beweiswürdigung zu erschüttern.

    Ob es dem Arbeitgeber gelungen ist, den Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, ist eine Frage der Beweiswürdigung. Diese ist gemäß § 286 ZPO grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten. Revisionsrechtlich ist nur zu prüfen, ob die Beweiswürdigung in sich widerspruchsfrei und ohne Verstoß gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze erfolgt ist, ob sie rechtlich möglich ist und ob das Berufungsgericht alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt hat. In dem entschiedenen Fall war die Annahme der Vorinstanzen, der Kläger sei im maßgeblichen Klagezeitraum infolge Krankheit an der Erbringung seiner Arbeitsleistung verhindert gewesen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

    Dr. Irini Ahouzaridi

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 1/24

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