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Bundesgerichtshof entwertet versteckt, aber massiv Kodexerklärung
Gleich drei für die Theorie und Praxis des Aktienrechts bedeutende Streitfragen entschied der Bundesgerichtshof am 9. Oktober 2018. Für kaum eine seiner Entscheidungen trifft mehr zu, was schon Goethes Götz von Berlichingen wusste: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Denn in den zwei von ihm beurteilten Verfahrensfragen (Bedeutung der Anmeldefrist für die Hauptversammlung und Abstimmungsverfahren bei konkurrierenden Kandidaturen für den Aufsichtsrat [AR] einer Aktiengesellschaft [AG]) entschied der Gerichtshof richtig (s. dazu den weiteren Beitrag im heutigen Newsletter). Im gesellschaftsrechtlichen Schatten steht aber die wichtige Entscheidung zum Corporate Governance Kodex – genauer: der sog. Kodexerklärung („Entsprechenserklärung“). Darin müssen die AG-Organe erklären, inwieweit die AG dem Kodex folgt. Die obersten Zivilrichter meinen, der Aufsichtsrat könne ohne Weiteres von seiner eigenen Kodexerklärung abweichen und der Hauptversammlung (HV) unter Verstoß gegen die eigene Erklärung einen AR-Kandidaten vorschlagen. Das beeinflusse nicht die Rechtmäßigkeit des HV-Beschlusses (Az. II ZR 78/17).
Worum geht es? Das Aktiengesetz (§ 161) schreibt Vorstand und Aufsichtsrat der börsennotierten Gesellschaft vor, jährlich zu erklären, dass den Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden und warum nicht. Der Präsens des Gesetzes („entsprochen wird“, „angewendet werden“) zwingt die Gesellschaftsorgane zur fortlaufenden Aktualisierung der Erklärung. Die AG im BGH-Fall hatte in ihrer Kodexerklärung versichert, dass sie den Empfehlungen des Kodex in Nr. 5.4.5. entspreche. Wer Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft ist, soll danach nicht mehr als drei Aufsichtsratsmandate in konzern-externen börsennotierten Gesellschaften oder vergleichbaren anderen Aufsichtsgremien wahrnehmen. Der Aufsichtsrat hatte in der Einberufung der Hauptversammlung Herrn K zur AR-Wahl vorgeschlagen. K war in einer anderen Aktiengesellschaft Vorstandsmitglied und bekleidete bereits mehr als drei solcher AR-Mandate. Einen Hinweis auf die Abweichung von der Kodexerklärung gab der Aufsichtsrat bei seinem Beschlussvorschlag nicht. Die Hauptversammlung wählte den AR-Kandidaten K. Dagegen klagte ein Aktionär und rügte u.a. den Verstoß des HV-Beschlusses in Hinblick auf die abweichende Kodexerklärung. Die Folgen eines Verstoßes gegen die Kodexerklärung waren vor der BGH-Entscheidung sehr streitig. Die wohl herrschende Meinung (prominent vertreten u.a. durch den Bonner Gesellschaftsrechtler Prof. Dr. Marcus Lutter) hält den AR-Beschluss mit dem Wahlvorschlag für nichtig, wenn die vorschlagsgemäße Wahl zu einer Abweichung vom Kodex führen würde; der AR verstoße mit dem Beschlussvorschlag gegen seine im Aktiengesetz festgelegte Pflicht zur Aktualisierung der Kodexerklärung; wegen der Nichtigkeit des AR-Beschlusses fehle der wirksame Wahlvorschlag an die HV, den die Verwaltung zu jedem eine Wahl betreffenden Tagesordnungspunkt geben muss. Demgegenüber trennte die Gegenauffassung (vertreten u.a. vom Vorsitzenden des BGH-Gesellschaftsrechtssenats Prof. Dr. Ingo Drescher in einem Kommentar) die Aktualisierungspflicht von der AR-Beschlussfassung über den Wahlvorschlag und die HV-Wahl. Verbreitet war die Sicht, dass eine HV-Wahl entgegen der Kodexerklärung wegen eines Verstoßes des Vorstands gegen seine Informationspflicht gegenüber der HV anfechtbar sei – so u.a. die Sichtweise des Bonner Prof. Dr. Jens Koch.
Der BGH schlug sich auf die Seite seines Vorsitzenden und die anderen Auffassungen in den Wind. Dabei versteckt er den wahren Gehalt seiner Entscheidung in einem unscheinbar daherkommenden Leitsatz. Dort heißt es: Eine Abweichung des AR-Wahlvorschlags von den Empfehlungen des Kodex beeinflusse nicht die Wirksamkeit der Wahl eines AR-Mitglieds; sie mache den AR-Wahlvorschlag oder seine Bekanntmachung weder unwirksam noch liege ein relevanter Verstoß gegen Informationspflichten vor. Das war indes überhaupt nicht streitig: Der Kodex ist kein Gesetz. Er hat auch keine Satzungsqualität. Daher enthält der Leitsatz in Hinblick auf den Kodexverstoß nicht mehr als eine Binsenweisheit, die dem Mainstream der Juristerei entspricht.
Was im Leitsatz steht, ist nicht das geradezu Explosive der BGH-Entscheidung. Sondern Folgendes: Der BGH meint, der AR-Beschluss verstoße nicht gegen Gesetz oder Satzung; er sei nicht nichtig. § 161 AktG regele nicht den Beschlussinhalt, sondern diene dem Informationsinteresse der Kapitalmarktteilnehmer. Ein Verstoß gegen den Kodex könne allenfalls die Unrichtigkeit der Kodexerklärung begründen und zu ihrer Aktualisierung zwingen. Das zu unterlassen, beeinträchtige aber nicht den AR-Wahlvorschlag an die Hauptversammlung. Die Kodexerklärung sei bei der HV-Wahl noch korrekt. Vor der Annahme der Wahl durch den gewählten Kandidaten verstoße die AG nicht gegen den Kodex, bis dahin bestehe auch keine Aktualisierungspflicht. Eine Erklärung, dass dem Kodex bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gefolgt wird, wäre ihrerseits unrichtig. Ohnehin müssten Vorstand und AR, nicht aber dieser allein, die Kodexerklärung aktualisieren. Zudem wirke sich eine Unrichtigkeit bzw. unterlassene Berichtigung der Kodexerklärung nicht auf die Bekanntmachung des Wahlvorschlags aus, denn die Erklärung beziehe sich auf den Kapitalmarkt, nicht aber auf die Hauptversammlung. Das stehe auch der Anfechtbarkeit wegen eines Informationsmangels entgegen. Der § 161 AktG begründe keine Informationspflicht der AG gegenüber ihren Aktionären im Zusammenhang mit einer Hauptversammlung. Die danach erforderliche Erklärung diene der allgemeinen Information des Kapitalmarkts und damit auch der Information der Aktionäre als Anleger; sie sei aber nicht hauptversammlungsbezogen.
Was der Bundesgerichtshof in seinen Entscheidungsgründen nicht behandelt, ist mE der entscheidende Aspekt, warum der Verstoß des AR gegen die Kodexerklärung zur Rechtswidrigkeit und damit Nichtigkeit seiner Wahlempfehlung an die Hauptversammlung führt und das mangels wirksamen Beschlusses die Anfechtbarkeit des gleichwohl gefassten HV-Beschlusses begründet: Die Kodexerklärung bedeutet eine Selbstbindung der Verwaltungsorgane, gegen die der AR mit seinem Beschlussvorschlag verstößt. Wer A sagt – d.h. wer in der Kodexerklärung verspricht, sich an eine Empfehlung des Kodex zu halten –, der muss auch B tun – sprich: entsprechend der Erklärung handeln und der Hauptversammlung einen der Erklärung konformen Beschluss unterbreiten. Darauf kann sich nicht nur der Kapitalmarkt verlassen, hierauf hat auch der Aktionär einen Anspruch. Der AR darf sich auch entscheiden, der Kodexerklärung nicht zu folgen und einen Beschlussvorschlag zu unterbreiten, der vom Kodex und der eigenen Erklärung abweicht. Dann muss er aber zunächst seine Kodexerklärung korrigieren.
Die Entscheidung des BGH bedeutet einen sehr bedauerlichen deutlichen Rückschritt von dem durch den Deutschen Corporate Governance Kodex eingeschlagenen Weg, für gute Corporate Governance in Deutschland zu sorgen. Auch gravierende Verstöße gegen die Kodexerklärung bleiben in wichtiger Beziehung folgenlos für gleichwohl gefasste HV-Beschlüsse.
In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 3/19
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