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    Neuer Darlehens-Widerrufsjoker durch den Europäischen Gerichtshof?

    Nachdem die vor rund zehn Jahren gestartete Welle von Darlehens-Widerrufen bei Verbraucherdarlehen wegen fehlerhafter Widerrufsbelehrungen („Widerrufs-Joker“) langsam abgeebbt ist, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit seinem Urteil vom 26. März 2020, Rs. C-66/19, für großes Aufsehen gesorgt. Denn danach sind die in Millionen von Verbraucherdarlehensverträgen seit Mitte des Jahres 2010 verwendeten Widerrufsinformationen und ein bis heute im deutschen Gesetz stehendes Muster wegen Verstoßes gegen europäisches Recht fehlerhaft. Zahlreiche Presseberichte der letzten Wochen nährten die Hoffnung, dass sich jetzt wieder viele Verbraucher ohne Zahlung einer Vorfälligkeitsentschädigung von teuren Altkrediten (Haus-/PKW-Finanzierung etc.) per Darlehenswiderruf lösen könnten.

    In dem Fall des EuGH hatte ein Verbraucher im Jahr 2012 bei der Kreissparkasse Saarlouis ein grundpfandrechtlich besichertes Darlehen über 100.000 € aufgenommen, dessen Zinssatz bis Ende November 2021 festgeschrieben war. In der Widerrufsinformation des Vertrags wurde der Kunde darüber belehrt, dass er seine Vertragserklärung innerhalb von 14 Tagen widerrufen könne. Entsprechend dem Muster des deutschen Gesetzes (Anlage zu Art. 247 § 6 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch – EGBGB) enthielt die Belehrung zum Beginn der Widerrufsfrist die Angabe, dass diese erst beginne, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB (z.B. Angaben zur Art des Darlehens, Angaben zum Nettodarlehensbetrag, Angaben zur Vertragslaufzeit) erhalten habe. § 492 Abs. 2 BGB verweist aber seinerseits wiederum auf Art. 247 §§ 6-13 EGBGB („Kaskadenverweisung“), die mit zahlreichen Querverweisen komplizierte Vorgaben zu den Pflichtangaben bei verschiedenen Typen von Darlehensverträgen enthalten. Der Kunde war der Auffassung, dass er damit nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt worden sei, weswegen die Widerrufsfrist noch gar nicht zu laufen begonnen habe. Er widerrief deshalb im Jahr 2016 den Darlehensvertrag gegenüber der Sparkasse. Weil diese den Widerruf nicht anerkannte, klagte der Verbraucher vor dem Landgericht Saarbrücken. Das Gericht hielt die Argumentation des Klägers für plausibel, sah sich aber durch entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) und die Formulierung im deutschen Gesetz an einer eigenen Entscheidung zugunsten des Klägers gehindert. Das Landgericht legte die Rechtsfrage deshalb im Januar 2019 dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung vor. Dieser hat nun entschieden, dass die Widerrufsinformation der Sparkasse nicht mit der Regelung in Art. 10 Abs. 2 Buchstabe ‘p‘ der Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG aus dem Jahr 2008 vereinbar sei. Begründet hat der EuGH dies damit, dass gemäß den europäischen Regelungen Verbraucher über die ihnen für den Widerruf eingeräumte Frist „klar und prägnant“ informiert werden müssten, was mit der deutschen Kaskadenverweisung von § 492 Abs. 2 BGB auf Art. 247 §§ 6-13 EGBGB nicht geschehe.

    Wenn man sich die Regelungen ansieht, kann man dem Urteil des EuGH nur zustimmen. Der EuGH konnte aber nicht entscheiden, ob darüber hinaus alle weiteren Voraussetzungen für einen Darlehenswiderruf vorlagen. Das Verfahren muss daher jetzt vor dem Landgericht Saarbrücken fortgeführt werden.

    Wie wird das Landgericht Saarbrücken voraussichtlich entscheiden?

    Die Schlussfolgerung, dass der Kläger aufgrund der Entscheidung des EuGH nunmehr seinen Prozess gegen die Sparkasse gewinnen müsste, wäre vorschnell. Denn die Wirksamkeit eines Darlehenswiderrufs hängt von weiteren Voraussetzungen ab, die nach innerstaatlichem Recht beurteilt werden müssen. Schließlich stellt sich nicht zuletzt die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen den Regelungen der Verbraucherkreditrichtlinie und denjenigen im deutschen BGB und EGBGB.

    Dem EuGH entgegenstehende Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH):

    Die deutsche Justiz ist der zigtausendfachen Prozesse um Widerrufsbelehrungen offenbar überdrüssig. Nachdem der BGH die Widerrufswelle gegen Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts selbst losgetreten hatte, ist seit einigen Jahren eine „widerrufsfeindliche“ Tendenz zu beobachten. So werden sehr viele Widerrufe trotz Vorliegens der Voraussetzungen im Ergebnis mit dem Argument einer „Verwirkung“ des Widerrufsrechts zurückgewiesen.

    Zu dem Problem der „Kaskadenverweisung“ in § 492 Abs. 2 BGB hatte der BGH schon in seinem Urteil vom 22. November 2016, XI ZR 434/15, BGHZ 213, 52 ff., Rn. 18 ff., entschieden, dass eine solche Belehrung in Ordnung sei, weil Gesetze wie das BGB und das EGBGB „für jedermann ohne weiteres zugänglich“ seien. Das sieht der EuGH - mit guten Gründen - anders.

    Der BGH hatte offenbar mit der Entscheidung des EuGH vom 26. März 2020 gerechnet. So ist zu erklären, dass er die Entscheidung zweier Widerrufsfälle wenige Tage nach der Verkündung des EuGH-Urteils terminierte, nämlich auf den 31. März 2020. In beiden Fällen hat der BGH die Widerrufe der Verbraucher zurückgewiesen:

    In dem Verfahren XI ZR 581/18 hat der BGH mit Beschluss vom 31. März 2020 den Darlehenswiderruf des dortigen Klägers deshalb zurückgewiesen, weil es sich um ein Immobiliardarlehen (ein durch Grundpfandrechte - Hypothek, Grundschuld - besichertes Darlehen), handelte und solche Darlehen – wie auch alle Darlehen mit Kreditsummen unter 200 € und über 75.000 € – gar nicht von der Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG erfasst seien. Letzteres ist für sich genommen richtig, doch hat sich der BGH mit der Argumentation des EuGH, dass die Mitgliedstaaten die Richtlinie auch auf weitere Kreditarten anwenden könnten (und Deutschland dies bzgl. Immobiliardarlehen getan habe) und dann insgesamt auch die Vorgaben der Richtlinie gelten würden, nicht eingelassen. Aufgrund dieses Urteils muss der Kläger im Fall des Landgerichts Saarbrücken damit rechnen, dass seine Klage trotz der für ihn günstigen Entscheidung des EuGH letztlich abgewiesen wird.

    In dem weiteren Verfahren XI ZR 198/19 hat der BGH ebenfalls mit Beschluss vom 31. März 2020 zum Nachteil des Verbrauchers entschieden. In diesem Verfahren ging es nicht um ein Immobiliardarlehen, sondern um eine PKW-Finanzierung bei der BMW Bank. Auf diesen Vertrag fand die Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG unproblematisch Anwendung und die auch dort verwendete Kaskadenverweisung in der Widerrufsinformation war mithin gemäß der Entscheidung des EuGH europarechtswidrig. Grund für die für den Kunden gleichwohl negative Entscheidung des BGH ist hier, dass die Bank sich bei ihrer Belehrung - nach Auffassung des BGH - exakt an das gesetzliche Muster der Anlage zu Art. 247 § 6 EGBGB gehalten habe. In diesem Fall werden die Darlehensgeber durch eine sog. „Gesetzlichkeitsfiktion“ in Art. 247 § 6 Satz 3 EGBGB geschützt. Darauf könne sich die BMW Bank stützen. Tatsächlich war das in dem entschiedenen Fall m.E. nicht richtig, weil die von der BMW-Bank verwendete Formulierung in der Widerrufsbelehrung, wonach der Kunde nach Erklärung des Widerrufs bis zur Rückzahlung „den vereinbarten Sollzins zu entrichten“ habe (der Sollzins lag bei 2,95 % p.a.), diesen dann aber pro Tag mit „0,00 Euro“ bezifferte, widersprüchlich war und insofern auch nicht dem gesetzlichen Muster entsprach.

    Der BGH hielt die von der BMW-Bank verwendete Formulierung gleichwohl für ausreichend entschied dazu weiter, dass die deutschen Gerichte im Falle eines Widerspruchs zwischen einer europäischen Richtlinie und einem konkreten innerstaatlichen Gesetz von Verfassungs wegen an letzteres gebunden seien.

    Diese schwierige Frage einer Normenkollision kann man so entscheiden (auch wenn in anderen Konstellationen schon anders entschieden wurde) und die Instanzgerichte werden sich in der Praxis an die Vorgabe des BGH halten. Nicht entschieden ist damit, weil es nicht Gegenstand der Verfahren war, ob die unterlegenen Verbraucher nunmehr einen Schadensersatzanspruch gegenüber Deutschland wegen fehlerhafter Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG haben könnten (Staatshaftung).

    Fazit:

    Trotz der verbraucherfreundlichen Entscheidung des EuGH vom 26. März 2020 werden Verbraucher in vielen Fällen ungeachtet der europarechtswidrigen „Kaskadenbelehrung“ ihre Darlehen nicht widerrufen können. Der BGH hat das vom EuGH geöffnete Tor in weiten Bereichen (insbesondere bei Immobiliardarlehen) sogleich wieder geschlossen.

    Es gibt jedoch Fälle, in denen ein Darlehenswiderruf noch funktioniert:

    Bei nicht grundpfandrechtlich besicherten Darlehen mit Kreditsummen zwischen 200 € und 75.000 €, etwa bei PKW-Finanzierungen oder sonstigen Allgemein-Verbraucherdarlehensverträgen, bleibt ein Widerruf wegen einer Kaskadenbelehrung (oder einem anderen Fehler in der Widerrufsinformation) dann möglich, wenn sich die Darlehensgeber nicht 1:1 an das gesetzliche Muster (Anlage zu Art. 247 § 6 EGBGB) gehalten haben.

    Ob diese Voraussetzungen vorliegen, bedarf im Einzelfall einer sorgfältigen Prüfung, ebenso die Frage einer möglichen Verwirkung des Widerrufsrechts. Auch wenn es keinen neuen „Widerrufsjoker“ gibt, wird sich die Justiz mit Darlehenswiderrufen daher noch lange beschäftigen müssen. Auch der Europäische Gerichtshof könnte nochmals intervenieren.

    Dr. Gerd Krämer

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 7/20

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